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„Theater ist gesellschaftliches Experimentieren“

08.01.2024

Meike Wagner ist Lehrstuhlinhaberin für Theaterwissenschaft an der LMU. Sie forscht unter anderem zur Theaterhistorie sowie zum zeitgenössischen Figuren- und Objekttheater.

Formen und Praxis des Theaters sowie seine Geschichte oder Figurentheater – Professorin Meike Wagner ist in ihrer Forschung breit aufgestellt und steht damit in der Tradition der Theaterwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler als Allrounder: „Weil wir ein kleines Fach sind, wird schon in der Ausbildung viel Wert darauf gelegt, dass sich Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler eine gewisse Bandbreite an Themen und Bereichen erarbeiten“, sagt sie, die seit 2022 an der LMU forscht – und damit eine „On-Off-Beziehung“ zu ihrer Alma Mater fortsetzt: Sie hat hier studiert, in Paris und Mainz promoviert, wieder an der LMU habilitiert, um schließlich nach acht Jahren an der Universität Stockholm erneut nach München zu kommen – und den Lehrstuhl für Theaterwissenschaft zu übernehmen.

Porträt der Theaterwissenschaftlerin Professor Meike Wagner. Sie sitzt vor einem großen Figurentheaterposter. Sie trägt eine Brille, einen schwarzen Pullover und eine graumeliert Jacke.

Meike Wagner hat seit 2022 den Lehrstuhl für Theaterwissenschaft an der LMU inne.

© LC Productions

Theater im Kerzenlicht

In Schweden hat Wagner in dem von der dortigen Nationalbank geförderten Projekt „Performing Premodernity“ zur Theaterpraxis vor rund 200 Jahren geforscht. „Schweden ist ein sehr guter Ort für historische und Praxisforschung, weil das Theater dort vor 200 Jahren eine Art goldenes Zeitalter hatte und sehr kultiviert wurde. Zudem gibt es noch einige sehr gut erhaltene historische Theater“, sagt sie.

Mehr noch: Im Theater Confidencen, das zum Schloss Ulriksdal in der Nähe von Stockholm gehört, konnte ihr Team zusammen mit ausgebildeten Schauspielerinnen und Schauspielern etwa rekonstruieren, wie Kerzenlicht als Bühnenbeleuchtung funktioniert und wie Kostümstoffe damals beschaffen sein mussten, damit sie bei dieser Art von historischer Illumination überhaupt noch sichtbar waren. „Es gibt sonst kein historisches Theater, wo man mit Kerzenlicht experimentieren kann“, freut sie sich.

Eine wichtige Erkenntnis hat Wagner auch während eines Workshops mit dem Schwerpunkt Musik und Klang im historischen Theater des Schlosses Drottningholm gewonnen: So konnte ihr Team herausfinden, warum sich etwa zwei Liebende auf der Bühne in einer heute etwas unharmonisch wirkenden Pose begegnen: „Die Bühnen waren sehr tief, was Auswirkungen auf die Verteilung des Klanges hat“, erklärt Meike Wagner. Je nachdem, wie die Agierenden zueinander standen, habe sich der Schall ausgebreitet oder nicht. „Durch eine bestimmte Stellung der Spielenden und die Formung des Bühnenraums wird der Klang voll zur Geltung gebracht und trifft sich gleichsam in einer Kreisform bei den Personen auf der Bühne“, so Wagner. „So wird durch den Klang eine Verbindung zwischen den Agierenden geschaffen.“ Der Raum, sagt Wagner, fungiere gleichsam als Instrument, das man kennen und beherrschen müsse.

Laientheater als Bildungsinstitution und Karrieresprungbrett

In einem weiteren theaterhistorischen Forschungsprojekt befasst sich Meike Wagner mit dem Laientheater im 18. Jahrhundert, das sich durch ein bürgerliches Setting von dem dominanten höfischen Theater der Zeit unterschieden habe. Neu bei diesen Laientheatergruppen seien die an demokratischen Idealen orientierten Prozesse beziehungsweise Organisationsstrukturen gewesen, die sich nicht nur in der Theaterpraxis, der Auswahl der Stücke oder der Rollenbesetzung zeigten. Auch am sozialen Umgang der Mitglieder der Theatergruppen untereinander lässt sich dies festmachen. So konnte Meike Wagner interessantes Quellenmaterial auswerten – zum Beispiel die Vereinssatzung eines Berliner Laientheaters, in dessen Vereinsstatuten sogar die Grundsätze der Menschenrechte anklängen: Dort werde unter anderem postuliert, dass jedes Mitglied die gleiche Stimme habe und nicht gehindert werden dürfe, sich frei zu äußern.

Auch, konstatiert sie, sei das Laientheater für Frauen eine Art Karrieresprungbrett gewesen, um an etablierten und bekannten Theatern Fuß zu fassen. „Man verstand sich als gesellschaftlich anerkannte, Theater spielende Bürgerinnen und Bürger und grenzte sich so von den Wandertruppen ab, deren Mitglieder mit der Aberkennung ihres gesellschaftlichen Status zu kämpfen hatten“, sagt Wagner.

„Mich interessiert vor allem, warum diese bürgerlichen Laientheater um 1800 herum so plötzlich und so zahlreich entstanden sind, wenn man davon ausgeht, dass nicht alle Autoren gleichzeitig Lessings Konzept des literarischen Theaters in entsprechende Stücke umgesetzt haben“, erläutert Meike Wagner. „Ich sehe eine Erklärung in der Theaterpraxis. Im Spiel auf der Bühne fand ein Mainstreaming dieses Konzepts statt.“ Das Projekt, das im Rahmen eines ERC Advanced Grants gefördert wird, bleibt aber nicht nur auf das Laientheater im von Kleinstaatlichkeit und Absolutismus geprägten deutschsprachigen Raum beschränkt. Die Forschenden, etwa von der University of Warwick im Vereinigten Königreich und aus Schweden, nehmen in Fallstudien die zeitgenössische Theaterszene auch in England, Frankreich, in Schweden und der Schweiz in den Blick.

Verschmelzung von Mensch und Objekt

Meike Wagner befasst sich schwerpunktmäßig auch mit dem zeitgenössischen Figuren- und Objekttheater – ein Thema, das sie schon seit ihrer Dissertation beschäftigt. „Ich bin vor allem interessiert, den Zusammenhang von Objekt und Mensch sowie Umwelt und Mensch im Sinne des posthumanistischen Theaters zu erforschen“, erklärt sie. Das bedeute, sich von der klassischen, Person und Objekt trennenden Position hin zu einer verbindenden zu bewegen und eine Kommunikation auf der gleichen materiellen Ebene zu schaffen. „Es gibt Performances, in denen sich die Spielenden direkt in das Objekt hineinbegeben und gleichsam mit ihm verschmelzen. So verwischen die klassischen Grenzen zwischen Personen und Gegenständen.“ Sie ist sich sicher, dass auf diese Weise Irritationen bei den Zuschauenden erzeugt werden, die auf das Menschen- und Körperbild zurückwirkten.

Ein großes Thema ist auch die Robotik, die derzeit im Objekttheater stark exploriert werde, sagt Wagner. Wie können social robots eine gewisse Autonomie entwickeln und wie ist das Verhältnis zu menschlichen Akteuren, sind hierbei die Kernfragen. „Das ist eine Grundkonstante in meiner Forschung: Die Neubestimmung von Menschen und Umwelt und Konsequenzen auf das Zusammenleben. Für mich ist das Theater keine Institution, mittels derer Bildungsbürger ihre Distinktion pflegen. Es ist vielmehr eine künstlerische Praxis, in der wir mit Situationen konfrontiert werden, die uns immer wieder auf gesellschaftlich relevante Fragen zurückwerfen. Theater ist gesellschaftliches Experimentieren.“

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